Die Alben des Jahres 2020: 10 – 01
| HM | Kurzformate | 50 – 41 | 40 – 31 | 30 – 21 | 20 – 11 | 10 – 01 |
10.
Flaming Lips
–
American Head
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Rückblickend kann man wohl behaupten, dass die 10er Jahre so etwas wie ein verlorenes Jahrzehnt auf der langen, seltsamen Reise der Flaming Lips darstellen. Nachdem sie das neue Jahrtausend mitten in ihrer Karriere mit zwei Klassikern eingeläutet hatten und die 00er Jahre mit einer unerwartet breitbeinigen Rock-Fanfare ausklingen ließen, verbrachten Wayne Coyne und seine Mitstreiter den Großteil der nächsten zehn Jahre damit, sich in Boulevard-Fehden zu verstricken, verzweigte Nebenprojekte zu betreuen und Miley Cyrus‘ weirde Drogenonkel zu spielen. Ihre als Flaming Lips aufgenommenen Platten dieser Zeit fühlten sich an wie ziellos mäandernden Depeschen einer verlassenen Raumstation. Nach einem Jahrzehnt im Weltraum sind die Flaming Lips nun auf der Erde zurück. Und finden sie in Trümmern vor.
Coyne zeigt zum ersten Mal seit einer Weile Anzeichen von glaubhafter Abneigung und weltlichem Zynismus, überdrüssig der äußeren Unterdrückung, die sich mit grauenhaft unaufhaltsamer Energie um uns herum aufbaut – der schrullig-dämliche „Tom Petty als Drogenlieferant“-Konzeptüberbau von American Head wirkt da mehr wie komödiantische Pflicht. Den Melodien auf dem gesamten Album werden Raum zum Nachklingen gelassen, nie zu prägnant, immer nebulös und lang genug, um genug taktvolles Melodrama hinzuzufügen und für schlicht erhabene Harmonien zu sorgen. Die besten Platten im Katalog der Flaming Lips sind immer noch jene, die die Balance zwischen der Vorliebe der Band für psychedelische Launenhaftigkeit und der unheimlichen Zärtlichkeit finden, die Coynes Songwriting untermauert. Zum ersten Mal seit fast zwei Jahrzehnten haben sie diese Erfolgsformel wiederentdeckt.
09.
A Dark Orbit
–
Parhelion
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Verschwindet ein Album beinahe ein Jahrzehnt in der Mottenkiste, ist das für gewöhnlich selten ein gutes Zeichen – im Falle von Parhelion, einem mit manischen Muskelspiel im Mathcore, Djent und progresisven Metalcore gewachsenen Bahamuth, zeugt es von einem geradezu exzessiven Perfektionismus: Der Mix wollte seinerzeit einfach nicht zur allgemeinen Zufriedenheit der Band um Frontierer-Brüllwürfel Chad Kapper gelungen, also mussten diese zwölf Nummern (plus ein Cover-Bonustrack, passenderweise eine Hum-Verneigung), von denen hinten hinaus vielleicht die eine oder andere – nur bei dieser konstanten Qualität bitte: welche? – gekürzt werden hätte können, um die Prägnanz der Platte zu schärfen, erst einmal auf die lange Bank.
Dass A Dark Orbit ihr verschollenes nominelles Debütalbum fünf Jahre nach dem Einstand-Langspieler Inverted und elf nach der ersten EP dann ausgerechnet zeitnah zur Rückkehr der nicht ewig weit entfernten Misery Signals – immerhin Ikonen und Vorreiter der Szene – veröffentlichen, ist dann Ironie des Schicksals, hilft aber irgendwo auch, die Klasse von Parhelion zu bestimmen, indem die Archivsichtung kurzerhand aus der Position der epigonenhaften, titelstiftenden Nebensonne tritt und die Strahlkraft eines eigenen Fixsternes entwickelt, heller als alles, was sonst in diesem Metier zeitaktuell konzipiert wurde.
Das passt auch zur geradezu sturen (bewusst auch monotonen) Unbedingtheit und stoischen Konzentration, mit der A Dark Orbit eine anachronistische Heaviness zelebrieren, das stilistische Trendbarometer im Rückspiegel belassen und damit sicher auch über eine gewisse Nostalgie derart erfrischend zünden: Ein Relikt im absolut bestmöglichen Sinn.
08.
Boris
–
No
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„All kinds of anxieties, fear, sadness, anger, and hatred have arisen to drive the world apart“ schreiben Boris in der Ankündigung ihres so ca. dreißigsten Albums NO, im Jahr der endgültigen Spaltung 2020. Die Band fährt fort: „People have a system whereby they unconsciously grow accustomed to things and adapt to them. But, this same system is also cursed in the way it allows inconvenient or troubling things to be disregarded as if they were never there to begin with.“
Man kann aus Takeshis Geschrei auf NO heraushören, dass die japanische Metal-Institution fühlt, was viele von uns im vergangenen Jahr – und lange davor schon – fühlten. NO ist ein Album, das 2020 wirklich gebraucht hat, der Nachfolger des in jeder Hinsicht übertriebenen Doppelalbums LφVE & EVφL ist diesem in vielerlei Hinsicht konträr entgegengesetzt: NO ist die Art von Album, die einem aus dem Nichts in den Schoß fällt und ihn auch gleich in Brand setzt. Boris haben schon viele schnelle Songs geschrieben, NO bewegt sich jedoch bewusst weg von der Psych/Noise/Experimental-Seite der Band und kotzt fast ausschließlich aggressiven, vor Punk strotzenden Thrash und Speed Metal in den Wind. Musik wie diese trifft härter, wenn die Welt in einem kritischen Zustand ist, und Boris sind derartige Meister so vieler verschiedenen Arten von Musik, dass es letztendlich ausnahmsweise mal keine Überraschung war, wie gut sie auch das mit der Katharsis hinbekommen. Und es handelt sich nicht um eine bloße Thrash-Fingerübung, NO ist immer noch unverkennbar Boris: Auf dem Album finden sich kaum generische Thrash-Sounds, selbst über Quasi-Grind-Ausflügen hängt der dicke Sludge, den man von Boris schon so vermisst hat.
Es wurde an dieser Stelle vielleicht schon zu häufig proklamiert, aber NO ist vielleicht das überzeugendste und vor allem besonderste Album, das Boris seit ihrem Durchbruch 2005, Pink, geschaffen haben. Und dazu mussten sie am Ende ihrer dritten Dekade als Band erst verflucht angepisst werden. Wie schreiben sie so schön: „Extreme healing music.“
07.
Hum
–
Inlet
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Seit knapp vier Jahren spielen Hum, nach der xten Reunion 2015 immer wieder für sporadische Shows zusammenfindend, vereinzelt bereits neue Songs; 2017 gibt man gar offiziell zu Protokoll, an einem neuen Studioalbum zu arbeiten.
Wirklich an einen Nachfolger zu Downward is Heavenward von 1998 geglaubt haben wohl nur wenige; noch geringer ist mutmaßlich nur die Zahl jener, die tatsächlich aktiv auf einen fünften Langspieler des Quartetts, dem man fälschlicherweise so gerne das Etikett des One Hit Wonders umhängt, gewartet haben.
Sicherlich stehen die Variablen dieser Gleichung jedoch in keinem Verhältnis zu der breiten Basis, die das schlussendlich aus dem Nichts kommende Inlet nun bedient: Hum klingen auf ihrer Rückkehr so heavy und massiv wie nie zuvor, erzählen sich stoisch und unaufgeregt durch voluminöse Songs und riesige Riffkaskaden, träumen von shoegazenden Post Metal-Welten und 90er geprägten Alternative Rock-Space-Sphären, irgendwo zwischen den Hohheitsgebieten der Deftones und My Bloody Valentine (denen man mit 22 Jahren Pause zwischen zwei Alben ja sowieso die Hand reichen kann).
Ein faszinierender Aspekt ist nun der, dass das Werk (wie auch die Band selbst) vollkommen frei von derartigen Erwartungshaltungen, Wahrnehmungen und Eindrücken zu existieren scheint, wie eine zeitlos geduldige Meditation über den Dingen thront: Inlet ist eines dieser klassischen Alben, die niemandem mehr etwas beweisen müssen, gerade dadurch aber eine existentielle Gravitation entwickeln.
06.
Ulver
–
Flowers of Evil
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Auch Wölfe entwickeln sich weiter. Im 27. Jahr ihres Bestehens blicken die Norweger von Ulver auf eine Karriere zurück, die mehr von Expansion denn Progression geprägt war. Ulvers Werk reicht von Black Metal über Trip-Hop bis hin zu progressivem Rock, nie wollte man sich jedoch auf einen bestimmten Stil festlegen – wahrscheinlich gar nicht so einfach, wenn man bedenkt, wie sehr sich das Kollektiv um Kristoffer Rygg der Qualität verschrieben hat. In letzter Zeit hat ihre Experimentierfreude die Band zu einem elektronisch orientierten Stil geführt, der von synthetischen Klängen und Rhythmen dominiert wird. The Assassination of Julius Caesar warf 2017 einen langen Schatten, aus dem die Geschwister-EP Sic Transit Gloria Mundi und das Live-Experiment Drone Activity sich gleichermaßen finster wavend erhoben wie Flowers Of Evil nun, das sich begleitet von hohen Erwartungen und der Vorfreude auf eine Weiterentwicklung aus der Dunkelheit schälte.
Und selbst wenn man angesichts der überragenden Qualität der Vorabnummern beim Erstkontakt mit Flowers of Evil als Ganzem auch ein bisschen unterwältigt sein kann, umschließt der Traum des Albumflußes in seinem nunmehr einfacher zugänglichen und an sich auch leicht zu erschließenden (aber voller Details bei der Stange haltenden) Wesen nachhaltig. Ein bemerkenswerter Unterschied zu The Assassination of Julius Caesar ist, dass Flowers of Evil das relativ gleichmäßige Tempo der Musik über die gesamte Länge hält. Die Songs bleiben innerhalb ihrer selbst auferlegten Grenzen, anders als auf dem Vorgänger, wo gerne an einem Ort begonnen und der Hörer an einen anderen geführt wird. Flowers of Evil befreit die Musik von solchen Spielereien mit Länge und Geschwindigkeit, bedächtiger als sonst trägt jede Komposition den unverkennbaren Stempel von Komplexität und Sorgfalt. Ein emotional aufgeladenes, wunderschönes Album, das den perfekten resignierenden Soundtrack für eine verwüstete Welt liefert und genau die makellos ausgearbeitete Fortsetzung, die die diese Band nötig hatte.
05.
Run the Jewels
–
Run the Jewels 4
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Die drei bisherigen Alben von Killer Mike und El-P alias Run the Jewels haben ihren anfänglichen Nischen-Appeal zwar immer weiter in die Breite getrieben – RTJ4 ist dabei jedoch das erste, das wie geschaffen ist als Soundtrack für eine ganze Bewegung: laut, wichtig und hart. RTJ4 hat das Licht in einer Welt des Umbruchs erblickt, die brutale Ermordung von George Floyd durch einen Polizeibeamten löste nur wenige Tage vor der Veröffentlichung weltweit Proteste und ein überschwappendes Bewusstsein für die Notwendigkeit von Veränderungen aus. Zynisch wer behauptet, RTJ4 wäre „zur richtigen Zeit“ erschienen – bisher blieb allerdings noch jede Protestmusik so in Erinnerung. Dabei war die Omnipräsenz von Polizeibrutalität in der Musik von Run The Jewels immer schon ein erschütterndes Spiegelbild einer Gesellschaft, die tägliche Realitäten konsequent ignoriert. Der Kontrast zwischen Killer Mikes rasender Wut im Eröffnungstrack Yankee and the Brave („I can’t let the pigs kill me, I got too much pride“) und seiner sichtbaren Verzweiflung, als er sich nach dem Mord an Floyd an Atlanta wendet, stehen jedoch als Symbol für die emotionale und physische Kriegsführung, die diese Communitys zermalmt. Das bedrückende Walking in the Snow spielt auf die Ermordung von Eric Garner im Jahr 2014 an und zeigt einen nach Luft schnappenden Mike, der von einem rassistischen Polizisten gewürgt wird, bevor er Twitter-Aktivisten – eine wohl nicht unwesentliche Gruppe ihrer Fanbase – anklagt, die erst entsetzt auf ihre Telefone starren und dann mit dem Finger im Arsch verweilen.
Killer Mike und El-P haben schon immer umwerfend komplizierte Verse mit Alliterationen und treibenden Reimen über einfallsreiche, nicht-lineare Produktionen ausgetauscht, und RTJ4 maximiert das Potenzial ihrer Outsider-Ästhetik, ohne die hart erkämpfte Authentizität in den Wind zu schießen. Eiskalte Abhandlungen über die zerschossene Seele des modernen Amerikas treffen auf gutmütige Prahlereien aus dem goldenen Zeitalter des Hip-Hop und ergeben bei allem kopfnickenden Stirnrunzeln eine bemerkenswert knallige Mixtur. Die Produktion ist hart und schwindelerregend abwechslungsreich – zerhackte Beats treffen die Trommelfelle wie die Dolche eines zu aggressiven Messerwerfers, Samples von Gang Starr und Gang Of Four klingen, als hätten sie schon immer RTJ gehört. Und diese Komplexität ist die größte Stärke des Albums. Nicht nur holen sich Run the Jewels hiermit endgültig den Lorbeerkranz einer neuen Generation an Protestbewegungen ab, RTJ4 ist schlichtweg auch ihr bestes Album.
04.
Neptunian Maximalism
–
Eons
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Neptunium Maximalism mögen mit ihrem Debütalbum keine Platte für Menschen mit Pachidermophobie aufgenommen haben, exkludieren aber zumindest aus Sicht des musikalischen Spektrums niemanden, der im weiten Feld aus Sunn O))) und John Coltrane, The Kilimanjaro Darkjazz Ensemble und Master Musicians of Bukkakke, Colin Stetson und Grails, Godspeed You! Black Emperor und Kamasi Washington, Ornette Coleman und den Swans oder Oranssi Pazuzu und Goat gut aufgehoben fühlen könnte.
Bei all dem sich assoziativ aufdrängenden Namedropping haben wir es bei dem megalomanischen Konzeptwerk Éons, mit seiner zwei Stunden lang weitestgehend instrumental erzählten Geschichte über eine von hyperintelligente Elefanten bevölkerte postapokalyptische Erde, jedoch mit einem Album zu tun, das sich seiner Referenzlast niemals biegt, sondern einen eigenwilligen Kosmos jenseits der stilistischen Parameter und Grenzen aufzieht.
Neptunian Maximalism nutzen also Versatzstücke des Jazz und weltmusikalischen Drone Metal, entziehen sich aber dezidiert beiden Kategorisierungen. Das ist keine Frage der Verweigerungshaltung, sondern eine der musikalischen Identität, die den Eklektizismus bis an den Ereignishorizont treibt und dort ein bisweilen ikonisches Statement postuliert: Éons holt ab, verlangt dafür aber die Bereitschaft, enorme Distanzen zurückzulegen.
03.
Bohren & Der Club Of Gore
–
Patchouli Blue
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Zuhause eingesperrt ist jedes Jahr ein Bohren-Jahr. Selten wollte man unter der warmen Sound-Kuscheldecke allerdings so wenig wieder hervorkriechen, wie 2020: Ein Saxophon taucht aus der samtenen Schwärze auf, klagende Töne, gedehnt, getragen. Die Nacht wird traurig und bis auf die Snare wird heute gar nichts mehr gebürstet. Bohren & der Club of Gore haben sich das vergangene Jahr noch vor Pandemie und Quarantäne zu eigen gemacht, und wie fast jedes ihrer Alben bietet Patchouli Blue gleichzeitig die perfekte Hintergrundmusik sowohl für Tschechowsche Dinnerpartys als auch für die intime Selbstfindungsfolter. Wieder einmal ein Album, dass die kaum beschreibbare Fähigkeit von Bohren unter Beweis stellt, den Hörer in einen hypnagogischen Zustand zu versetzen. Wieder einmal ein Album, das vor kühler Sehnsucht strotzt, die ihre ästhetischen Wurzeln in den behutsam aufgebauten Atmosphären des klassischen Film Noir ebenso findet wie in den Soundtracks Angelo Badalamentis, im Dark Ambient und Jazz ebenso wie im Doom Metal von Black Sabbath und den staubigen Wüstenlandschaften von Earth. Und es ist nun mal auch so, dass ein Mantel für die Sinne erst so richtig geschmeidig wird, wenn er schon etwas eingetragen ist.
Es wäre aber nicht fair, Patchouli Blue in dieselbe alte Schublade „Neues Bohren-Album“ zu stecken, denn dies würde implizieren, dass die vorangegangenen Werke weniger aufregend gewesen wären. Tatsächlich könnten nur wenige Bands jemals darauf hoffen, mit so wenig selbst gegönnten Spielraum um eine Erfolgsformel so konstant zu fesseln, wie Bohren es seit Jahren tun. Persönlich ist man vielleicht geneigt, in Patchouli Blue eine dezente Rückkehr zu einem stilistischen Weg zu sehen, von dem man hoffen durfte, dass er eines Tages wieder eingeschlagen werden würde, davon abgesehen beweist die verjüngte Eleganz des Albums zumindest aufs Neue, dass Bohren auch in Zukunft der Gradmesser im Bereich des Doom-Jazz bleiben werden. Bohren & der Club of Gore vermögen es, die Schönheit in Gefühlen zu Tage zu bringen, in denen man diese oberflächlich nicht zu entdecken vermag, und tun dies mit wahrhaft makelloser Musik, die noch jede Dunkelheit mit Lichtpunkten durchdrungen hat. Wenn eine Band einen Stammplatz in diesen Charts verdient hat, dann diese hier.
02.
Thou & Emma Ruth Rundle
–
May Our Chambers Be Full
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Emma Ruth Rundle spielt keinen Metal, trotzdem klang ihre Musik in dessen Kontext schon immer ganz natürlich. Die tiefe Stimmung ihrer dröhnenden Gitarrenriffs beschwört eine Heavyness herauf, ohne die kantigsten Texturen des Metals mitzuschleppen. Dadurch konnte sie auch mit Titanen wie Cult of Luna touren und immer noch wie eine vergleichbare Naturgewalt klingen, selbst ohne die Unterstützung einer Backing-Band: Wenn sie am offensten und trostlosesten sind, fühlen sich Rundles Klanglandschaften massiver an als so mancher Doom-Abgrund. Genau aus diesem Grund macht eine Zusammenarbeit mit Thou – einer Band, die sich ihren eigenen, einzigartig melancholischen und kunstvollen Raum innerhalb des Doom- und Sludge-Metals geschaffen hat – nicht nur Sinn, sondern fühlt sich auf May Our Chambers Be Full an, als wäre sie schon immer vorbestimmt gewesen. Die Idee keimte 2019 auf, als Rundle und Thou ein gemeinsames Live-Set für das jährliche Roadburn-Festival zusammenstellten, nach einem Jahr, das für Thou kein unwesentliches war: 2018 erfuhr die Band endlich ernsthafte Aufmerksamkeit von einem breiteren und weitaus vielfältigeren Teil der Musik-Community als noch zuvor. Coole Leute wie von heavypop.at wissen, das Thou schon immer eine besondere Band waren, aber 2018 fühlte es sich so an, als wäre ihr Jahr gekommen. Das Resultat war ein Fest der Ideenkollision und ein überzeugendes Argument dafür, dass Metal oft dann am besten ist, wenn seine Gegensätze ausgelotet werden.
May Our Chambers Be Full ist mit 36 Minuten relativ kurz, was nicht bedeutet, dass Rundle und Thou nicht das Beste aus dem spärlichen bemessenen Platz holen. Behilflich ist dabei vielleicht, dass der stilistische rote Faden, der sich durch das Album zieht, weder Doom noch Dream Pop noch Post-Rock noch Sludge ist, sondern Grunge. Das sollte all jene nicht überraschen, die Thou schon einmal Nirvana, Alice in Chains oder Soundgarden covern gehört haben, oder auch die hymnischen Refrains von Rundles Songs wie Staying Power. Andy Gibbs hat A Perfect Circle als Inspiration für die erste Single Ancestral Recall angeführt, und das kreischende Gitarrensolo von Into Being ist ein seltener Stadionmoment des Albums. Alle sieben dieser kolossalen Tracks sind eindringliche Erlebnisse, die etwas Tieferes als nur Riffs erforschen, mit Nuancen, die man bei weiterem Hören wiederentdecken und entwirren kann.
Und wo diese musikalische Herangehensweise für Thou nun nichts gänzlich Neues ist, haben sie alleine nie so zerbrechlich geklungen, und die Musik von Emma Ruth Rundle noch nie so voll und komplex. Das formidable Vocal-Gespann von Bryan Funck und Rundle lässt May Our Chambers Be Full die dunkelsten Tiefen überstrahlen und erhebt die hypnotische Dissonanz dieser Kollaboration zu etwas Spirituellem, während der emotionale Rausch, den die gewaltige Doppelgesangsattacke auf dem neunminütigen Closer und Song des Jahres The Valley auslöst, noch lange nach dem Ausklingen der Platte für Gänsehaut sorgt und das Gefühl vermittelt, hier Zeuge etwas Besonderen gewesen zu sein.
01.
A.A. Williams
–
Forever Blue
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Wenn nicht schon damit, das doch eher Metal-Affine Publikum des Roadburn-Festivals bei ihrem allerersten Live-Auftritt überhaupt im April 2019 zum bedächtigen Schweigen gebracht zu haben, dann hat sich A.A. Williams ihren Status als eine der besten Live-Musikerinnen Großbritanniens zweifelsohne durch spektakuläre Support-Auftritte vor geschätzten Künstlern wie Amenra, Cult of Luna und Russian Circles verdient, deren Post-Metal Wände hinter Williams’ Präsenz und tragischen Gothic-Balladen beinahe in Vergessenheit geraten sind. Viel Bestätigungsarbeit also, die ihr Debütalbum also nach diesen Auftritten, einer atemberaubenden Debüt-EP und einer fesselnden Zusammenarbeit mit den japanischen Post-Rock-Innovatoren von Mono leisten musste. Und obwohl es nicht gerade das ist, was der durchschnittliche Kuttenträger als „heavy“ definieren würde, konnte (fast) kein Album im vergangenen Jahr Forever Blue in Sachen schierer Emotionalität das Wasser reichen.
Die umwerfende Kombination aus verlorenen Gitarren, schwebenden Streichern und melancholischem Klavier ist beeindruckend, selbst im Wissen darüber, dass es sich bei Williams um eine klassische ausgebildete Multiinstrumentalistin handelt. Und doch steht hier ihr himmlischer Gesang im Mittelpunkt: Über Williams’ trostloser Lyrik ist ihr Gesang schmerzlich beschwörend und drückt die Art von tiefer Traurigkeit aus, die trotz einer von Natur aus düsteren Aura einzigartig tröstlich und erhebend sein kann. Ihre Stimme harmoniert auch fantastisch mit Gästen wie Tom Fleming und Johannes Persson, wobei Flemings tieferer Bariton zu einem ergreifenden Duett beiträgt, während Perssons charakteristisches Brüllen mit dem dramatischen Abschluss von Fearless für den direktesten Moment von Forever Blue sorgt. Obwohl triumphale Crescendos, angetrieben von Post-Rock-Gitarren und intensiven Vocals, Williams‘ Stärke sind, sticht dieser Moment durch seine überwältigende metallische Wucht hervor und wirkt auf einem Album, das sonst stimmungsvoll und getragen ist, noch intensiver.
Die Stärke von Forever Blue liegt in seiner Dynamik, und dass es so mühelos im schwer fassbaren Vakuum zwischen Schönheit und Düsternis schwebt, das unzählige Bands nur touchieren können, ohne zerrissen zu werden, ist beispielhaft dafür. Forever Blue ist ein plakativ passender Titel für ein Album, das so herzzerreißend traurig ist, dabei sind diese Songs kaum dazu geeignet, die Stimmung zu trüben – sie sind ein Heilmittel an dunklen Tagen, Wegweiser aus der Dunkelheit. Wenn der bedrückende Closer I’m Fine mit dem klärenden Zwitschern von Singvögeln ausklingt, ist die hoffnungsvolle Botschaft des Albums voll und ganz verinnerlicht: Forever Blue suhlt sich nicht in Schmerz und Elend, vielmehr überwiegt das Gefühl der Transzendenz – das Gefühl, sich zumindest kurzfristig über die Erschwernisse des Lebens erheben zu können.
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