Atramentus – Stygian
Ein weiteres Doom Metal-Artwork von Mariusz Lewandowski, dann auch noch zeitnah mit einem ähnlich betitelten Bell Witch-Album veröffentlicht. Doch abgesehen davon, dass Atramentus mit ihrem Debütalbum (auch abseits der Präsentation) einige Kästchen am Klischee-Bingo des Genres abhaken, macht das lange hinausgezögerte Stygian verdammt viel richtig. Und letztendlich auch herausragend.
Mastermind Phil Tougas hat sich beinahe acht Jahre Zeit gelassen, um nun gemeinsam mit einer Szene-Allstar-Band im Rücken (mit Kumpel und Gitarrist Claude Leduc, dazu Keyboarder François Bilodeau, Bassist Antoine Daigneault und Drummer X. Berthiaume sind seit 2015 u.a. Mitglieder von Chthe’ilist, Funebrarum und Gevurah in dem Quintett aus Quebec beschäftigt) nach der Gründung im Winter 2012 erst psychische Probleme zu überwinden, dann aber gleich mit dem ersten Lebenszeichen von Atramentus ein traditionsbewusst monolithisches Konzeptalbum zwischen Funeral und Epic Doom, Evoken und Mournful Congregation zu veröffentlichten, das einen namenlosen Ritter durch die Überreste einer gestorbenen Welt schickt: „Granted immortality through the gift of the God’s sword, the nameless knight eventually witnesses the death of the sun and the end of all life on Earth. Surviving the great deluge, he is left to wander amongst the ruins of a now frozen earth under a sunless sky for eternity, alone and unable to die even by the scorching-cold blizzard winds around him, enduring perpetual physical torture while haunted by the memories of his past life and everyone he once knew buried under miles of ice. Each of the three epic songs contained within differ widely to reflect the changing of autumn to perpetual winter.“
Wo Atramentus grundlegend keine unbedingten Originalitätspreise für sich reklamieren (und auch Lewandowski mittlerweile nur noch Variationen eines im Grunde immer gleichen Motivs individualisiert), ziehen die kurzweiligen 45 Minuten der Platte jedoch nach allen Regeln der Genre-Kunst in den Bann ihrer in Zeitlupe schleichenden Gravitation. Stygian I: From Tumultuous Heavens… (Descended Forth the Ceaseless Darkness) eröffnet als erster von zwei überlangen Songtitanen an den Tasten (eines synthetischen Klaviers, Hackbretts, Keyboards oder Cembalos?) repetitiv im Suspence und Horror watend; getragen, aber auch wegen der mitunter tackernder Drums nicht schwerfällig. Die Band hängt bedrückend über Orgelschwaden, die röchelnden Vocals dringen aus dem Erdinneren an eine lichtlose Oberfläche. Die Melodien tragen zwar eine epische Weite in sich, pflegen aber ein sinnierendes Suchen, fokussieren keine wirklich griffigen oder erhebenden Motive, wollen keine Hoffnung auf eine fassbare Schönheit nähren.
Sie schleppen sich eher durch eine trostlose Landschaft, die auch deswegen interessant ist, weil der Mix die einzelnen Elemente mal subtil hervorhebt, dann wieder morastartig verschluckt und im Ganzen aufgehen lässt, desorientierend anzieht. Verzweifelte Schreie tauchen auf, irgendwann flüstert sich das Stück über die flächige Orchestrierung, während Atramentus sich in einer Abwärtsprirale der immer tiefer führenden Entschleunigung befinden, gespenstischen Arrangements begegnen, die wie alles hier Projektion von Trugbildern sein könnten, wenn ein entrückter Chor in hirnwütig sedierter Entfernung heult, die Texturen auskleiden, der Opener mit geradezu beschwörender Geduld ausblutet, sich in die Finsternis zurückzieht. Diese Platte lebt vor allem von ihrer eindringliche Stimmung, von ihrer beklemmenden Atmosphäre, die alle Lebensgeister auswringt.
Insofern kommt Stygian II: In Ageless Slumber (As I Dream in the Doleful Embrace of the Howling Black Winds) als (bis auf ein dumpfes Aufschrecken am Ende rein instrumental gehaltenes) Bindemittel aus Ambient und Drone, das Bilodeau aus seinem Keyboard zieht, einer kurzen Verschnaufpause gleich. Die es vor dem überragenden Stygian III: Perennial Voyage (Across the Perpetual Planes of Crying Frost & Steel-Eroding Blizzards) auch braucht.
Ein entmenschlichter Beginn malträtiert abartig aus den Stimmbändern gezogene Vocals, die sich nach und nach in einer Zeitlupe-Landschaft aus bedächtig aufgelösten Erinnerungen an majestätische Gitarren verlieren, so unendlich morbide und finster. Die Melodien rücken nun stärker in den Vordergrund, führen an, steigen von der Phantasie in die physische Welt, weisen zu einem choralen Part, der die Einsamkeit in eine vielleicht nicht optimistische Richtung lenkt, aber zumindest etwas tröstendes keimen lässt, das in einem feierlich wogenden, knödelnd-darkfolkigen, mittelalterlichen Gesang von erdrückender Heaviness und lethargischen Depression aufgeht. Atramentus stapfen durch die eisige Kälte vor einem cineastischen, stellaren Kulisse, stellar, führen den Spannungsbogen meisterhaft mit dichtem Strich über eine nostalgische Sehnsucht, schicken die grandios ineinander verwobenen, verhalten-hymnischen Gitarren flehend über den Horizont, ziehen die Dynamik bis zur erlösenden Katharsis einer tackernden Black Metal-Kaskade, deren Abspann Einkehr an einem mystischen Lagerfeuer findet.
Man kann nach diesem Finale insofern kritisieren, dass die Band erst in diesem zweiten Part des Albums ihr Potential wirklich abzurufen scheinb, nachdem sie sich im ersten Teil der Erzählung „nur“ auf Augenhöhe mit den Standards den Genres positioniert hat – dann aber eben umso beeindruckender über sich und den Durchschnitt mit epochaler Tragweite und Tiefgründigkeit hinauswächst, den Funeral Doom als Triumphzug auslegt, und den allgemeinen Eindruck der Platte letztendlich auch auf diesem Niveau prägt.
Stygian gelingt schließlich spätestens hier, auf plättender Betriebstemperatur, was nur die besten Vertretern des Genre beherrschen: Die Platte nimmt gefangen, lässt vollends in ihrer Welt aufgehen, schickt das Kopfkino vom Alltag isoliert in anderen Sphären, so bildgewaltig, assoziativ und imaginativ. Die Kanadier erschaffen sich nach und eine charakteristische eigene Nische, und obwohl andere mit den einzelnen Elementen, die dieses Debütalbum zu mehr als der Summe seiner Teile amalgamiert, früher dran gewesen sein mögen, haben Atramentus in ihrem Segment ein Werk geschaffen, das bis auf weiteres zumindest im Jahr 2020 durchaus Referenzwert hat.
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