Arcade Fire – Reflektor

von am 27. Oktober 2013 in Album, Heavy Rotation

Arcade Fire – Reflektor

Paradigmenwechsel für die derzeit größte Indieband der Welt: Win Butler, Régine Chassagne und ihre Kapelle zieht es unter tatkräftiger Unterstützung von Produzent James Murphy aus der Beschaulichkeit der Suburbs unter vielschichtiger Rhythmuslastigkeit in dieDisco.

Nein, ‚Reflektor‚ ist doch nicht das LCD Soundsystem Album geworden, dass der nur beinahe in einem Meer aus überkandidelten Promoaktionen, ekstatischen Hypeausbrüchen und dem angenehm sparsame in Szene gesetzten David Bowie-Gastauftritt untergehende Titelsong vorab in Aussicht stellte. James Murphy drückt dem vierten Arcade Fire Album zwar natürlich in zahlreichen Momenten seinen Stempel auf und sorgt mit einer detailreich schimmernden, dynamisch drückenden Produktion praktisch alleine dafür, dass ‚Reflektor‚ waghalsiger, überraschender und auch besser ausgefallen ist als der Vorgänger. Letztlich bleiben Arcade Fire aber auch im neuen Gewand unverkennbar Arcade Fire. Unter der Ägide des DFA-Visionärs erfindet sich das kanadische Kollektiv jedoch tatsächlich generell und ausführlich unter glitzernden Discokugeln, einer subtilen Liebe zu den 1980ern und konsequent auf den Beat gespielten Songs ein ganzes Stück weit neu, unterzieht sich im gravierenden Soundwechsel der so nötigen Frischzellenkur und liefert vor allem auf der ersten den der beiden Tonträger eine variantenreiche Aufarbeitung der neuen Möglichkeiten ab, lichtet im Gesamten vielleicht sogar wirklich ihre ureigene Talking Heads-Platte ab.

We Exist‚ vereint etwa mühelos einen Michael Jackson-Basslauf mit Baywatch-Drumfills und dramatischen Streichern, während ‚Flashbulb Eyes‚ es sich lieber kurzzeitig im zurückgelehnten Dub bequem macht. ‚Here Comes the Night Time‚ spielt geschickt die ‚Take Me Out‚-Rhythmuswechsel-Karte aus: ein polternder Dancehallausflug kippt unmittelbar in einen schlapfenden Karneval mit schnepfendem und rollendem Bass sowie leichtfüßig geklimperter Pianomelodie – und letztendlich wieder retour; leider ohne wirklich zu explodieren. ‚You Already Know‚ könnte dafür glatt als der The Smiths-verliebteste Song der Babyshambles durchgehen – freilich mit der standesgemäßen Arcade Fire-Eleganz dargebracht. Der Rock’n’Roller ‚Normal Person‚ lässt dafür in seinem rohen Refrain eine Gitarre vorausquietschen, die so auch Jack White gefallen müsste, und ‚Joan of Arc‚ ist danach natürlich nicht der angetäuschte Punksong, aber zwischen seinem infektiösen Chorus leider auch nur etwas verloren groovender Pop.

Weitaus in sich gekehrter präsentiert sich dagegen die technisch nicht zwangsläufig notwendige, die Teilung des Albums aber stilistisch rechtfertigende, gewichtigere und auch grandiose zweite Hälfte: weniger direkt und eingängig, dafür noch homogener miteinander verschweißt geben sich Arcade Fire hier mal ganz behutsam der allgemeinen Drive-Ästethik hin (im herausragenden ‚Porno‚), interpretieren dann eigene Stücke als atmosphärische Nebel neu (‚Here Comes the Night Time II‚), schweben zwischen meditativer Entspannung und slidender Musical-Stimmung (‚Awful Sound (Oh Eurydice)‚) erlauben sich atmosphärische Ausklänge in strahlender Schönheit (‚Supersymmetry‚) und mit der „Arcade Soundsystem“-Vereinigung ‚Afterlife‚ auch die eine oder andere strahlende Großtat.

Das drittbeste Arcade Fire Album teilt jedoch auch einige – genau genommen nur im eigenen Schaffenskontext der Band greifende – Makel mit seinem Vorgänger. Wo ‚The Suburbs‚ durch die schiere Menge an guten bis sehr guten Songs kaschieren wollte, dass die Kompositionen der Kanadier (egal ob hinsichtlich der aufgefahrenen Melodien, in Texten und Songwriting, der ergreifenden Dramatik oder der mitreißenden Hymnik) nicht mehr die Klasse der ersten beiden Alben erreichten, tut dies ‚Reflektor‚ ähnlich energisch mit seiner (gar nicht so) erschlagenden Länge und Ausführlichkeit: für sich alleine genommen mögen einige Songs deutlich zu lange ausgefallen sein, sich zu sehr in ihrem eigenen facettenreichen, ungewohnten Hintergrund verlieben – womit ‚Reflektor‚ gewissermaßen auch an den eigenen hohen Ansprüchen und Ambitionen zu scheitern droht -, am Stück und als Einheit verfliegt das Album allerdings deutlich flotter als es der Spielzeit von stattlichen 85 Minuten nach müsste. Dennoch und vor allem ist ‚Reflektor‚ wie schon auch ‚The Suburbs‚ im Gegensatz zu ‚Funeral‚ und ‚Neon Bible‚ aber nicht mehr von Stücken gespeist, die aus vor schieren Emotionen explodierenden Herzen entsprungen zu sein scheinen, sondern eben aus ungemein klug konstruierten Songs geformt, die sorgsam im Kopf erdacht und entwickelt wurden – diesmal aber mit dem Vorteil dazu auch den Bauch anzusprechen und dazu die ereignisreichere Produktion zu haben.

Die Makellosigkeit der Geniestreiche aus den Jahre 2004 und 2007 also außen vor (weil: ‚Reflektor‚ lenkt seine Interessen ohnedies in andere Richtungen!) hätte ‚Reflektor‘ mit einer konzentrierteren Trackliste wahrscheinlich eine noch atemberaubendere Kurskorrektur werden können, als es das Dreamteam James Murphy und Arcade Fire da nicht ohnedies abgeliefert haben. Und mag Album Nummer Vier deswegen auch nicht restlos das nahezu allerorts herbeizitierte Meisterwerk geworden sein – eine herausragende, hinten hinaus phasenweise schlicht atemberaubend auftrumpfende Platte wie ‚Reflektor‚ würde den meisten Bands ohnedies zu keinem Zeitpunkt gelingen. Ihrer Vorreiterrolle werden Arcade Fire damit jedenfalls (endlich wieder) spielend gerecht.

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