Amenra – Mass VI
Die Pausen zwischen den postmetallischen Messen von Amenra werden länger, ihre Predigten fallen dafür aber auch im phasenweisen Autopilot ein wenig differenzierter und reichhaltiger texturiert aus: Mass VI fördert neben bewährten Trademarks schließlich vor allem auch den in den vergangenen fünf Jahren gewachsenen Erfahrungsschatz der Belgier.
Reihenweise Splitveröffentlichungen und Exkursionen mit ihren zahlreichen Nebenprojekten, dazu vor allem die entschlackenden Acoustic-Kuren: Dass die Hohepriester der Church of Ra in dem seit ihrem letzten regulären Studioalbum verstrichenen knappen halben Jahrzehnt keineswegs untätig waren, formt Mass VI nun doch merklich. Immer noch bildet dabei ein simplizistischer Stoizismus aus archaisch geschichteten, tektonisch nuancierten Riffschwällen die Grundlage einer finster walzenden Masse, die den Epigonen-Postmetal der Labelväter von Neurosis mit der Ästhetik des Black Metal und ambienten Postrock übersetzt, imaginativ den Bogen von Celeste bis Cult of Luna spannt – und ja, diese Kaskaden haben weiterhin einen kaum dezenten Déjà-vu-Charakter, denn Amenra wissen, wo ihre Stärken liegen.
Doch bereits der Opener Children of the Eye führt vor, dass Amenra in einer unverkennbar geprägten Umgebung nach zsätzlichen Perspektiven suchen, indem sie den durchatmenden Passagen mehr Raum als bisher zugestehen, die Finsternis auch einmal bereitwilliger durchlüften, den Druck umschichten. Wenn sich Children of the Eye also langsam aufbaut und irgendwann mit psychotischer Wucht detoniert, während Front-Provokateur Colin H. van Eeckhout hirnwütig getrieben schreit, stemmen Amenra sich dieser schiebenden Härte alsbald entgehen, indem sie sich dem Wall ergiebig öffnen. Plötzlich kippt der Song in eine treibende Innenansicht. Van Eeckhout säuselt melodisch und einnehmend, führt seine Band auf einen Trip. Amenra fallen in den Sog der Nummer, folgen ihr mit geschlossenen Augen, auch wenn ihr polarisierender Vorstand längst wieder auf seiner Kanzel wütet. Die Belgier arbeiten hier genau genommen weiterhin nach typischen Mustern, klingen für ihre pechschwarzen Verhältnisse im Kontext aber zart und gefühlvoll, verschieben die Balance und Dynamik damit in ihrem Songwriting effektiver als bisher, setzen ihre Treffer auch verdeckter.
Über das einsame, karge Spoke Word Intro Edelkroone ist damit der Spielraum von Mass VI vermessen. Plus près de toi (Closer to you) platzt zwar symptomatisch apokalyptisch auf und funkelt im getragenen Tempo finster, sinniert jedoch bald elegisch, zutiefst melancholisch, verletzlich und fragil, vielleicht sogar hoffnungslos romantisch. Amenra drängen ihre subtil eingeflochtenen Melodien nicht mehr als erste Reaktion mit einer (vor allem anderswo) bereits zu oft gehörten Rifflast in den Sludge-Krater, sondern lassen auch heimeligeren Wohlklang zu und verstärken dabei den sich formenden Kontrast; intensivieren das leidende, flehende Momentum in ihren Kompositionen und schärfen den Fokus als Atmosphäre-Experten so furios, wie vielleicht nur auf Mass III bisher.
Das fragmentarisch ziellose Spijt nimmt danach als obligatorische Erzählung die Dichte ein wenig zu sehr aus der im Detail kurbelnden Platte, nur um in der erdrückenden Opulenz der Gitarrenschichten und Arrangements eine beeindruckende Größe versanden zu lassen, bevor das an sich generisch arbeitende Mass VI zu seiner stimmungstechnischen und inszenatorischen Hochform aufläuft, indem es die Randbedingungen nahezu ideal abschöpft: Die Experten Billy Anderson, Lucas Raport und Jack Shirley haben der Kombo aus Flandern einen mächtigen, saubereren, grandiosen Sound auf den Leib geschneidert, der mit regelrecht spiritueller Leidenschaft ein brodelndes, sich selbst verzehrendes Verlangen destilliert.
Das schier überragende Highlight A Solitary Reign gedeiht in diesem Nährboden aus einem zurückgenommenen Minimalismus, aus einer einsamen folkigen Gitarre und fistelndem Klargesang, wiegt sich jedoch immer müheloser und natürlicher. Wie großartig der vielseitigere Gesang mit den typisch massiven Klanglandschaften und dem wechselseitigem hysterischen Heulen harmoniert, lässt die Band in seiner weihevollen Aura und überwältigenden Breite baden. Amenra beschwören hier ein episches Monstrum, in dem man sich verlieren kann.
Einer der besten Songs der Bandgeschichte bedient sich dabei zwar immer noch der bestehenden Muster, die vor allem Neurosis vor Dekaden ausgelegt haben, spielt also nach den gängigen Bauplänen des Genres, doch agieren Amenra hier so energisch und hungrig – eben endgültig auf Augenhöhe mit den besten der Szene, da neben all dem handwerklichen Können und dem instinktiven Gefühl auch mit einer unverkennbaren Handschrift entlang der Vorgaben gearbeitet wird, die über die ganzheitliche Ästhetik und Wahrnehmung der Band hinausgehend erkennbar ist.
Schwächer wird Mass VI danach kaum mehr: Daiken ist ein Gospel aus der Unterwelt, geduldig und beschwörend. Amenra transportieren trotz der markanten Typisierung etwas unberechenbares, animalisch loderndes, in dessen Spannungsfeld der zu abrupt endende Closer immer mehr zur Naturgwalt mutiert, deren vorhersehbarer Wellengang aus brüllender Lautstärke und leiser Einkehr, aus bekannten Strukturen und bisweilen auf Nummer sicher gehender Zuverlässigkeit kaum Ermüdungserscheinungen aufkommen lässt. Im Gegenteil: Selbst wenn man den Hype um das faszinierende Kollektiv immer nur bedingt nachvollziehen konnte (und die Belgier in ihren schäwchsten Augenblicken mitunter gar in die Schiene der Resteverwerter aus dem Schatten der großen Vorbilder abzustellen gewillt war), könnte das bandbreitenerweiternde Mass VI den Knackpunkt in der Discografie darstellen, der einen über eigentlich doch zu kurz wirkende 41 Minuten in die Welt von Amenra mitreißt. Nicht ihre beste Platte, aber eine, die hinter der offensichtlichen Pflichtbewusstsein die Dinge spannend genug hält, um notfalls auch mit Hingabe länger als weitere fünf Jahre auf Mass VII zu warten.
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