The Tidal Sleep – Vorstellungskraft
Zwei Jahre nach ihrem Debütalbum zirkeln The Tidal Sleep ihren impulsiven Melodic Hardcore noch dringlicher und energischer an den weitläufig ausatmenden Spannungsbögen des Postrock entlang.
Klare Sache: The Tidal Sleep haben bei Bands wie Defeater oder Modern Life is War genau aufgepasst wie das mit der sportlichen Intensität im modernen Hardcore geht. Der Verdacht liegt außerdem nahe, dass sich die Band eventuell ja auf Touchè Amorè’s ‚Non Fiction‚ als Song des Jahres 2013 verständigen kann und dass man ‚Rain‚ im Proberaum ziemlich abgefeiert hat. Die Mannheimer gehen über diesen Ansatz jedoch auch auf Albumlänge weiter hinaus, lassen sich der ‚Four Song‚-EP folgend dorthin treiben wo es weh tut, werken gleichzeitig strukturierter und durchdachter als bisher, die Nahtstellen zwischen den Genres sind im Songwriting homogener verarbeitet: ‚Vorstellungskraft‚ optimiert die Rezeptur aus zupackender Direktheit und epischer Tiefe.
Wo die Rhythmussektion heftig drückt schwingen sich die Gitarren also mit viel Reverb und Delay auf – wie sie im eindringlichen ‚Angst‚ glimmern ist das näher an Explosions in The Sky als an etwaigen aufrührenden Tourspezis. Die darunter aufbrechende melancholische Verzweiflung macht die darum herum explodierende Aggression in ihrer Intensität überhaupt erst möglich und ist jenem aufrüttelndem Amalgam nicht unähnlich das Pianos Become The Teeth als nächste Nahverwandte ebenfalls gerne schüren. Vor allem auch wegen der stimmlichen Nähe von Sänger Nicolas zu seinem Kollegen Kyle Durfey kann man sich auf ‚Vorstellungskraft‚ deswegen ausmalen, wie die amerikanische Kollegen wohl klingen könnten, wenn sie sich an der Abzweigung zum Screamo und Emocore doch öfter für weitläufig aufgefächerte (Instrumental-)Passagen entscheiden würden, in denen der Druck, die Spannung und die Intensität nochmal einen extra Anlauf nehmen dürfen – denn genau diesen Balanceakt haben The Tidal Sleep auf ihrem Zweitwerk verinnerlicht. Songs wie ‚Flood Dreams‚ oder ‚Glass‚ galoppieren mühelos zwischen Hoffnungsschimmer und Inferno, Härte und Einfühlsamkeit, zeigen, welche Schlagkraft jubilierende Schönheit haben kann: The Tidal Sleep brillieren über 11 Songs hinweg als Brückenbauer und Mischmaschinen, die nur selten klare Fronten zwischen den Polen ziehen.
Zumindest einmal tun sie das allerdings doch: in ‚If you build it…‚ findet die zu erwartende Explosion nicht statt, The Tidal Sleep verschnaufen über einem nachdenklichen Wellengang, meditieren sich in die hypnotischen Tiefen von Envy – die Auflösung erfolgt erst im 90 Sekunden-Sprinter ‚… they will come‘. Der Dynamik der Platte im Gesamten tut dies gut, keine Frage – aber ohne die homogene Dualität in der ‚Vorstellungskraft‚ gedeiht ist das in diesem Augenblicken eben „nur“ guter, handelsüblicher Postrock. Atmosphärisch und stimmungsvoll inszeniert zwar, aber ohne die kontrastreichen Perspektiven fehlt es an den nötigen Reibungspunkten, um sich von der darbenden Routine abzuheben, mit der das Genre im Allgemeinen zu kämpfen hat.
Deutlich stärker wiegen deswegen Brocken wie das eröffnende ‚Old Youth‚, das den Pit mit klaustrophobischer Intensität zum Schwitzen bringt und sich dennoch zwischen den Zeilen zu einer melodieseligen Hymnik hinreißen lässt; der potentielle, am plingenden Indierock entlangschrammende Hit ‚Thrive and Wither‚; oder der hämmernde Triumphgesang ‚Fathomed‚. Auch hier erfinden The Tidal Sleep das Rad des Hardcore vielleicht nicht neu – drehen es aber mit bärenstarken Songs in der Hinterhand eigenwilliger und die Verbindungsstelle der Genres schlicht konsequenter als ein Gros der Brüder im Geiste. Im abschließenden, knapp sechs Minuten langen und über die Hälfte seiner Spielzeit in einer majestätisch-melancholischen Szenerie verglühenden sanften Riesen ‚Lined Skin, Rotten Hull‚ krönen The Tidal Sleep ihr bisheriges Schaffen dann auch folgerichtig gleich selbst, mit rezitierenden, kunstvollen Passagen, die so auch La Dispute neidisch werden könnten. Neben ‚Old Departures, New Beginnings‚ schon die zweite großartige Hardcore Platte des Jahres auf This Chaming Man Records, auf internationaler Ebene ziemlich sicher sogar jene, in deren Wellengang man sich 2014 bisher am wohligsten verlieren will.
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