Retox, Zeus!, NA [02.07.2013 Forum Stadtpark, Graz]
Ein absoluter Pflichttermin: auf dem Plan steht Justin Pearsons eindeutig spannendstes Post-The Locust-Projekt inklusive Doku, dazu mit dem italienischen Supergroup-Duo Zeus! und den heimischen NA außerordentlich potenter Support. Soviel vorweg: restlos glücklich werden kurz nach Mitternacht dennoch nicht alle Anwesenden das Forum verlassen.
Die Durchschlagskraft des Retox-Auftritts wird ein klein wenig mit dem Sound zu kämpfen haben, viel mehr jedoch mit dem Publikum. Bis es dazu kommt müssen allerdings noch ein paar Stunden verstreichen.
Der Timetable verschiebt sich nämlich gleich zu Beginn deutlich nach hinten. Erst um kurz vor 20.45 Uhr startet ‚YPLL‚: Retox haben analog zu ihrem gleichnamigen Studioalbum eine knapp einstündige Dokumentation drehen lassen, die das Titelthema der Platte (Year of potential Life Lost) anhand von Interviews mit Bandmitgliedern, namhaften Kollegen und Weggefährten wie Buzz Osborne, Nick Zinner oder Trevor Dunn weiter beleuchten soll.
Durchwegs kurzweilig inszeniert entlässt der Streifen allerdings etwas ratlos als unausgegorenes Mittelding aus Themen-Interviews, stimmungsvollen Live-Schipseln und biographischen Erzählungen (samt dezenter Selbstbeweihräucherung) – vor allem, weil im Kern wenig neue Erkenntnisse geboten werden (die da etwa wären: bei einem integeren Dasein als Musiker geht es nicht um Kohle und Erfolg, sondern seinem Leben einen Sinn zu geben, in dem man sein Leben lebt – angekommen!) und die Doku in den schwächsten Momenten wie eine unaufgeforderte Rechtfertigung dafür rüber kommt, sich für ein unangepasstes Leben entschieden zu haben. Trotzdem ganz nett zum einmal ansehen; unbedingt gebraucht hätte es die Vorführung allerdings nicht.
Nach fast 40 minütiger Umbauphase entern dann NA die Bühne. Jakuzi’s Attempt-Schlagzeuger Martin Pfeiffer und der Grazer „Gitarrist“ Christian Alltag präsentieren in atmosphärische Nebelschwaden gehüllt einen widerspenstigen, rein instrumentalen und schwer verdaulichen Brocken aus Noise, Drone, Doom, Metal und allerlei sonstig frei schwebenden Experimental-Ansätzen. Das hat durchaus seine Höhepunkte (vor allem wenn NA die Zügel enger anziehen und sich einem hypnotischen Groove hingeben), krankt aber auch an einem gewissen Proberaum-Charakter, der durchaus packende Ideen und Ansätze oftmals etwas zu lose aneinander reiht.
Geradezu paradox, dass die folgenden Zeus! in Sachen Sprunghaftigkeit noch mindestens zehn Schippen drauf legen und ihren Songs trotzdem einen erkennbareren roten Faden verpasst haben. Ebenfalls im Minimalverband – Bass und Schlagzeug diesmal – zünden die beiden Italiener Luca Cavina und Paolo Mongardi ein regelrechtes Feuerwerk aus wahnwitzigen Genre-Hackenschlägen und Anrissen, inklusive technischer Bestialität. Vor allem der mit Neon-Techno-Brille ausgestattete Paolo entpuppt sich als unter Feuer stehendes Duracell-Monstrum, während Luca den Besessen gibt und sich immer wieder mit infernalem Black Metal-Gekeife Erleichterung verschafft. Das ist so sehr Grind wie Mathcore, Metal und Punk, wie es gleichzeitig nichts davon ist und kurz darauf sowieso schon wieder längst ganz wo anders randaliert – meistens sind Zeus! damit geradezu beeindruckend brutal, imposant vertrackt und höllisch schnell. Das unterhält wie nichts Gutes und wer sich die Hetzjagden von Lightning Bolt oder Orthrelm unter knallhart in alle Hinmelsrichtungen austeilenden Speed-Einfluss vorstellen will, der hat ein ungefähres Bild des stattfindenden Irrsinns.
Für die Vocals des vergleichsweise geradlinigen ‚Sick and Destroy‚ entert dann Justin Pearson erstmals auf der Tour zum gemeinsamen Ständchen die Bühne, wofür es auch annähernd den meisten Applaus im Set gibt. Verständlich angesichts der Adelung, allerdings sind Zeus! auf Sicht gesehen ohnedies die insgeheimen Sieger des Abend: die musste man nicht auf der Rechnung gehabt haben, um von ihrer energischen Spielwut vollends weggeblasen zu werden. Wo Zeus! sich also aus dem Hinterhalt ohne jeglichem Druck austoben können, müssen die folgenden Retox sich natürlich mit Erwartungshaltungen auseinander setzen.
„Wir gehen auf Konfrontationskurs, wollen Reaktionen im Publikum hervorrufen, einen gegenseitigen Energieaustausch erzwingen“ sagt die Band irgendwann in der Dokumentation ‚YPLL‚. Letztendlich können Retox diesen Idealfall eines Szenarios im Forum Stadtpark dann allerdings nicht wirklich provozieren.
Dabei schont sich das Quartett von Beginn an keinen Millimeter: Pearson verrenkt sich wie zu besten Zeiten, keift, spukt und brüllt sich die Stimmbänder wund. Gitarrist Michael Crain bringt sein variantenreiches Spiel noch aggressiver als auf Platte ein, beinahe in einer rasenden Trance, während Thor Dickey (eindeutig der Sohn des jungen Henry Rollins und James van der Beek!) den grollenden Boden dafür legt. Der tighte Hochgeschwindigkeits-Schlagwerker Brian Evans erweist sich derweil auch Live als würdiger Ersatz für Gabe Serbian: seine konstant kraftvolle und drückende Performance ringt außerdem nicht zuletzt aufgrund der bereits vor der Show wenig dezenten Aura von exzessiven Gras-Konsums Respekt ab.
Der Funke zum Publikum (doch zahlreich erschienen, aber bei weitem nicht derart lokalsprengend, wie man das angesichts des von Wire Globe servierten Besuchs annehmen hätte können) will gefühltermaßen dennoch nicht restlos überspringen. Vor der Bühne klafft das gesamte Set über ein Loch in dem sich nur wenige abgehende Fans tummeln, das Gros der Zuhörerschaft verfolgt das randalierende Hardcore-Getöse erhältnismäßig statisch und (dem artigen Applaus nach trotzdem) zufrieden aus dem Hintergrund.
Dass ein paar Typen im vorderen Bereich Bewegung zu machen versuchen wäre da theoretisch durchaus zu begrüßen gewesen – praktisch tun sie dies aber beeinträchtigt vom offenbar unstillbaren Alkoholverlangen inklusive voller Bierflaschen, was dann eigentlich nicht sein muss.
Hinsichtlich der Publikumsinteraktion geht an diesem Abend wenig, das scheint ihnen irgendwann offenbar klar zu werden, weswegen man mal eben zu vereinzelten „You Suck!„-Rufen übergeht und lauthals fordert die moderate Lautstärke hochzudrehen. Womit sie an sich nicht nur Unrecht haben: Justin Pearsons Stimme ist unter dem restlichen Instrumentarium begraben und damit tatsächlich ein wenig zu leise, Bass und Gitarre variieren hinter dem prägnanten Schlagzeug natürlich von der Lautheit im Raum. Vielleicht nicht restlos optimale Soundverhältnisse, aber im Gesamten passt das durchaus (vor allem für ein Punk-Konzert) und ist sicher kein Grund sich derart zu benehmen, auf Pearson während der kurzen Songpausen permanent einzuschwafeln, bis der gereizt aber höflich seine Wut hinabschluckend beinahe verzweifelnd resigniert: „I’m sorry, we’re trying really fucking hard here„. Zum abschließenden ‚Consider The Scab Already Picked‚ kommt Pearson dem allzeit unangenhem auffallenden, redelsführenden Käpchenträger noch einmal insofern entgegen, als dass die Lautstärke tatsächlich hochgefahren wird. Schadet nicht, macht die Sache aber auch nicht eklatant besser.
Nach diesem letzten Song gehen Retox zugabenlos von der Bühne, obwohl das Kontingent der Band noch nicht erschöpft wäre: 15 Songs wurden gespielt, ein umfangreicher und knackiger Querschnitt aus Alben- und EP- Material; Highlights wie das fetzende ‚Soviet Reunion‚ und ‚Greasy Psalms‚ natürlich inklusive. Dass seitens der Band keine Lust dazu besteht noch einmal nachzulegen ist nicht zuletzt angesichts der Umstände nachvollziehbar, passt dann aber letztendlich auch nicht nur deswegen , weil eine Zugabe vom Publikum ohnedies nicht besonders vehement gefordert wird – sondern vor allem, weil Retox ihren kompakt prügelnden Hardcore live noch atemloser, konzentrierter und mitreißender gestalten als auf Tonträger, im derart kompakten Set keine Fragen offen lassen und sich einmal mehr als ideale Erbverwalter von Das Oath und Some Girls präsentieren.
Das Grazer Hardcore- und Punk-Live-Jahr 2013 ist nach dem rasenden Abend jedenfalls um ein absolutes Highlight aus der ersten Liga reicher. Und so erfreulich dieser dankenswerte Graz-Stop damit auch in jedem Fall war – das nächste Mal eventuell doch in einem anderen Ambiente. Das hat dann auch gar nichts damit zu tun, dass der Barkeeper für die (fm4-Werbe?)-Earplugs einen Euro auf den Tresen gelegt bekommen haben will.
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